Relevant für alle
Frauen verbringen in ihrem Leben über 80 Prozent ihrer Arbeitszeit in der Sorge- und Versorgungswirtschaft. Sie umfasst alle personenbezogenen und haushaltsnahen Dienstleistungen – also alle unbezahlten und bezahlten Tätigkeiten rund um die direkte Sorge für und Versorgung von Menschen. Diese Arbeit ist eine zentrale Voraussetzung für die Qualität unserer Lebensbedingungen und für unseren Lebensstandard und damit relevant für die gesamte Gesellschaft und für die Wirtschaftspolitik.
Die Arbeit, die in der Sorge- und Versorgungswirtschaft geleistet wird, macht fast 70 Prozent des gesamten Arbeitsvolumens der bezahlt und unbezahlt geleisteten Arbeit in unserer Gesellschaft aus. Doch trotz ihrer ökonomischen und gesellschaftlichen Bedeutung und ihres enormen Volumens fehlt die Sorge- und Versorgungswirtschaft in gängigen Wirtschaftstheorien und -politiken als eigenständige analytische Kategorie. Denn bislang beruht wirtschaftstheoretisches Denken und Handeln vorwiegend auf der Analyse des industriellen Kapitalismus und der damit verbundenen grossen Dienstleistungsbranchen. Dienstleistungen, die vom Staat finanziert und organisiert werden, kommen in diesen Berechnungen meist nur als Kosten vor. Das heisst nichts anderes, als dass die Bedeutung dieser überproportional von Frauen geleisteten Arbeit in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte um Wirtschaftspolitik ignoriert wird – etwa bei der Definition dessen, was im Bruttoinlandprodukt (BIP) als wertschöpfend und wirtschaftlich produktiv gezählt wird.
Zentrale Fragen der feministischen Ökonomie
Sorge- und Versorgungsarbeit wirft andere ökonomische Fragen auf als etwa die industrielle Produktion oder Finanzdienstleistungen. So können beispielsweise weniger Pflegende nicht immer mehr Kranke pflegen, ohne dass sowohl Pflegedienstleistungen wie auch Arbeitsbedingungen darunter leiden.
Was diese Arbeit kennzeichnet und welchen Stellenwert sie in unserer Wirtschaft hat, erforschen feministische Ökonom*innen spätestens seit den Frauenbewegungen der 1970er Jahre unter den Begriffen «Economics of Care», «Reproduktion», «Social Provisioning», «Care- oder Reproduktionsökonomie», «Vorsorgendes Wirtschaften», «Ökonomie des Versorgens» und «Sorge- und Versorgungswirtschaft». Die zentralen Fragen, die sie stellen, sind: Wer zählt? Welche Personengruppen werden statistisch abgebildet und wirtschaftstheoretisch bedacht? Wie ist diese Arbeit organisiert? Wer leistet sie unter welchen Bedingungen? Wie wird sie (nicht) entlohnt und welche Auswirkungen hat dies auf die in diesem Sektor bezahlt und unbezahlt Beschäftigten? Welche Bedeutung hat sie für die gesamte Wirtschaft? Und welche Fragen stellen sich in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und ein gutes Leben?
Damit benennen feministische Ökonom*innen einerseits die ökonomischen Grundlagen für die systematische Diskriminierung von Frauen und der Geringschätzung der von ihnen geleisteten Arbeit. Und andererseits arbeiten sie daran, die schwerwiegenden Lücken in den gängigen Wirtschaftstheorien und -praxen zu schliessen.
Weil diese Lücken im ökonomischen Denken Frauen überproportional betreffen, sind sie für die feministische Ökonomie zentral. Denn Frauen arbeiten überproportional viel unbezahlt und (schlecht) bezahlt in der Sorge- und Versorgungswirtschaft. Und eine grosse Mehrheit gebärt Kinder und übernimmt einen Grossteil der Sorge- und Betreuungsarbeit in ihren Familien. Die bis heute entstandenen wirtschaftstheoretischen Ansätze zur Sorge- und Versorgungswirtschaft und die darin aufgeworfenen Fragen zu Arbeitsprozessen, -bedingungen und Austauschverhältnissen stammen vorwiegend aus den Federn und Köpfen der Frauen- und der feministischen Bewegungen. Economiefeministe knüpft an die aktuellen und historischen ökonomischen Fragen dieser Bewegungen und an den Arbeiten von Fachpersonen zu feministischer Ökonomie und Wirtschaftspolitik an.
Wer zählt?
Wir legen den Fokus auf Perspektiven, welche gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge in den Blick nehmen. In diesem Zusammenhang muss auch die Rolle des Staates und des Finanzsystems Eingang in die Diskussion finden, wie auch Fragen zum Zusammenspiel von Macht, Geld und Verfügungsgewalt über Frauen.
Unsere Arbeit zu diesem Sektor muss zudem notwendigerweise von der Verflochtenheit und Dynamik zwischen den verschiedenen Wirtschaftssektoren und den Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland ausgehen, wenn wir die wirtschaftlichen Dynamiken der Gesamtwirtschaft verstehen wollen.
Eine Mehrheit derjenigen, die in diesem Sektor arbeiten ‒ insbesondere Frauen ‒, tragen eine ganze Reihe von schwerwiegenden Konsequenzen: grosse Einkommenslücken, jene zwischen Männern und Frauen beträgt rund 100 Milliarden Franken jährlich, Benachteiligung in der Gestaltung öffentlicher Finanzen, den Finanzierungssystemen der Alters-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, in der Besteuerung, in der Verteilung von Kapital und Vermögen und die finanziell nachteiligen Auswirkungen der gegenwärtigen Modelle zur Finanzierung familienexterner Kinderbetreuung – um nur einige Aspekte zu nennen.
Wir wollen keine weiteren wirtschaftspolitischen Debatten, Studien, und Gesetzesvorlagen mehr, ohne substantielle Überlegungen aus feministisch-ökonomischer Perspektive. Denn wenn die ökonomisch strukturelle Benachteiligung von Frauen und ihre Erfahrungen und Kenntnisse für gesellschaftspolitische Entscheide nicht angemessen Beachtung finden, werden sie nur einer Minderheit der Gesellschaft gerecht. Wir müssen also dringend fragen: Wie kann die Arbeit im Sorge- und Versorgungssektor künftig finanziert und gesellschaftlich organisiert werden, damit sie der gesamten Bevölkerung zugute kommt und nicht länger auf der finanziellen und zeitlichen Ausbeutung von Frauen und generell unter-, unbezahlten und flexibilisierten Arbeitskräften beruht? Was müssen wir über ökonomische Zusammenhänge wissen, damit die Voraussetzung für demokratische Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik gegeben ist? Was, wenn Frauen und ihre Arbeit tatsächlich zählen?
Herausforderungen
Wenn wir von einem Wirtschaftssektor der direkten Sorge für und Versorgung von Menschen sprechen, dann sprechen wir von allen Menschen für die gesorgt wird und von allen, die in diesem Sektor arbeiten. Menschen verschiedener sozialer Herkunft, in unterschiedlichen Familien- und Einkommenssituationen, mit oder ohne Migrationsgeschichte, in unterschiedlichem Alter und von unterschiedlicher Hautfarbe, sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität haben einen unterschiedlichen Zugang zu Dienstleistungen und unterschiedliche Arbeitsbedingungen in diesem Sektor. Nach wie vor fehlen viele Daten, so dass Phänomene aufgrund der genannten zahlreichen Ungleichheitsmechanismen nur begrenzt abgebildet werden können.
Theoretiker*innen und Aktivist*innen, die sich diesen Herausforderungen stellen, sind sowohl in ihren Disziplinen wie auch in ihren Ansätzen divers aufgestellt. Auch in der Ökonomie ist das nicht anders: Die feministische Ökonomie gibt es nicht – weder in vergangenen noch gegenwärtigen Fragestellungen, Theorien und Debatten. Es gibt nur eine plurale feministische Ökonomie. Doch unabhängig von ihren unterschiedlichen Ansätzen und theoretischen Denkgebäuden, haben sie mindestens gemeinsame Ausgangspunkte: Unbezahlte Arbeit, Aspekte der Sorge- und der Versorgungswirtschaft oder ihre Bedeutung für die gesamte Wirtschaft.
Organisationsform und (un-)bezahlte Arbeit
Die Organisationsform von Economiefeministe als Verein stellt uns vor grundsätzliche Fragen, die unser Thema und das Ziel unseres Vereins im Kern berühren: Nicht nur in der feministischen Ökonomie ist das Nebeneinander von bezahlter und unbezahlter Arbeit und den damit zusammenhängenden Fragen nach Gerechtigkeit zentral, sondern auch innerhalb unserer Organisationsstruktur sowie in der Zusammenarbeit mit Forscher*innen, Aktivist*innen, Gruppen und Organisationen. Mit der Anstellung einer Geschäftsleitung und durch die Mischung von bezahlten Aufträgen und ehrenamtlicher Arbeit müssen wir festlegen, welche Arbeiten überhaupt und wenn ja, wie hoch sie bezahlt werden sollen. Wir führen über unsere Diskussionen und unsere Schlussfolgerungen ein Tagebuch und haben vor, dieses Thema auch öffentlich zu besprechen. Denn wir gehen davon aus, dass andere zivilgesellschaftliche Projekte mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind.