Der vierte und grösste Wirtschaftssektor
Die Organisation der Sorge- und Versorgungsarbeit ist eine zentrale wirtschafts- und gesellschaftspolitische Frage – und eine feministische.
Rund 100 Milliarden Franken. So gross ist die Einkommenslücke der Frauen in der Schweiz. Das, obwohl sie ungefähr gleich viel arbeiten wie Männer. Nur werden sie für ihre Arbeit schlechter bezahlt. Oder gar nicht.
Rund 70 Prozent. So gross ist der Sektor der Sorge- und Versorgungsökonomie – bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammengenommen. Was wir normalerweise unter Wirtschaft verstehen, ist also vielmehr: der kleinere Rest der Wirtschaft.
Rund 80 Prozent. So gross ist der Anteil ihrer Arbeitszeit, den Frauen über ihr ganzes Leben hinweg mit Sorgen und Versorgen verbringen.
Eigene ökonomische Logik
Alle Menschen müssen geboren, ernährt, und grossgezogen werden und brauchen auch als Erwachsene saubere Kleidung, Nahrung und Pflege. Und all diese Arbeit wirft andere ökonomische Fragen auf als etwa die industrielle Güterproduktion oder Finanzdienstleistungen. Während beispielsweise Autos immer schneller produziert werden können, kann nicht immer schneller gepflegt und Kinder können nicht immer schneller ins Bett gebracht werden, ohne dass sowohl die Arbeit wie auch Arbeitsbedingungen darunter leiden. Die Ökonomin Mascha Madörin hat die eigene ökonomische Logik dieser Arbeit als Pionierin auf diesem Gebiet in ihre Theorie aufgenommen. In der Konsequenz fasst sie alle Arbeit, die dieser anderen – dieser personenbezogenen und haushaltsnahen: dieser zeitintensiven – Logik folgt, im Sektor der Sorge- und Versorgungswirtschaft zusammen. Dieser vierte Wirtschaftssektor umfasst das breite Spektrum von der Gastronomie über den Detailhandel, das Bildungs-, Sozial- oder das Gesundheitswesen bis hin zur unbezahlten Haus- und Familienarbeit. Ein theoretischer Ansatz, der aus einem makroökonomischen grundlegenden Sektorenverständnis resultiert.
Zentral für feministische Ökonomie
Was diese Arbeit kennzeichnet und welchen Stellenwert sie in unserer Wirtschaft hat, erforschen feministische Ökonom*innen spätestens seit den Frauenbewegungen der 1970er Jahre unter den Begriffen «Economics of Care», «Reproduktion», «Social Provisioning», «Care- oder Reproduktionsökonomie», «Vorsorgendes Wirtschaften», «Ökonomie des Versorgens» und «Sorge- und Versorgungswirtschaft». Die zentralen Fragen, die sie stellen, sind: Wer zählt? Welche Personengruppen werden statistisch abgebildet und wirtschaftstheoretisch bedacht? Wie ist diese Arbeit organisiert? Wer leistet sie unter welchen Bedingungen? Wie wird sie (nicht) entlohnt und welche Auswirkungen hat dies auf die in diesem Sektor bezahlt und unbezahlt Beschäftigten? Welche Bedeutung hat sie für die gesamte Wirtschaft? Und welche Fragen stellen sich in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und ein gutes Leben?
Damit benennen feministische Ökonom*innen einerseits die ökonomischen Grundlagen für die systematische Diskriminierung von Frauen und der Geringschätzung der von ihnen geleisteten Arbeit. Und andererseits arbeiten sie daran, die schwerwiegenden Lücken in den gängigen Wirtschaftstheorien und -praxen zu schliessen.
Relevant für alle
Weil diese Lücken im ökonomischen Denken Frauen überproportional betreffen, sind sie für die feministische Ökonomie zentral. Denn Frauen arbeiten überproportional viel unbezahlt und (schlecht) bezahlt in der Sorge- und Versorgungswirtschaft. Und eine grosse Mehrheit gebärt Kinder und übernimmt einen Grossteil der Sorge- und Betreuungsarbeit in ihren Familien. Sie verbringen in ihrem Leben durchschnittlich über 80 Prozent ihrer Arbeitszeit in der Sorge- und Versorgungswirtschaft. Doch nicht nur für die Frauen ist dieser riesige Wirtschaftssektor relevant. Er macht insgesamt fast 70 Prozent aller geleisteten Arbeit in der Schweiz aus. Und er trägt wesentlich zu Wohlstand, Wohlbefinden und Lebensstandard bei. Entsprechend ist er relevant für die gesamte Gesellschaft und damit auch für die Wirtschaftspolitik.
Eine zentrale wirtschafts- und sozialpolitische Frage lautet deshalb: Wie kann die Arbeit im Sorge- und Versorgungssektor künftig finanziert und gesellschaftlich organisiert werden, damit sie der gesamten Bevölkerung zugute kommt und nicht länger auf der finanziellen und zeitlichen Ausbeutung von Frauen und generell unter-, unbezahlten und flexibilisierten Arbeitskräften beruht?
Wer tut es, wenn nicht wir es tun?
Hintergründe, Etappen und Zukunftsfragen – Mascha Madörin im bücherraum f
Unentlöhnte und schlecht bezahlte Frauenarbeit. Gefangen in Diensten am und für Menschen. Der riesige Sorge- und Versorgungs-Sektor. Systemrelevante Arbeit. Am 23. Mai 2022 sprach Mascha Madörin im bücherraum f über die dringlichen Themen rund um den Umbau des gegenwärtigen Wirtschaftssystems und ihren work in progress für eine Feministische Politische Ökonomie, die bisherige Beschränkungen überwindet. Bereits der Titel des Vortrags repräsentiert eine gesamtgesellschaftliche Frage: «Wer tut es, wenn nicht wir es tun?» Denn bis heute sind es vorwiegend Frauen, welche die gesellschaftlich notwendige Sorge- und Versorgungsarbeit leisten, grösstenteils unbezahlt und schlecht bezahlt. Aus einer feministischen Perspektive drängt es sich daher auf, zur Diskussion zu stellen, wie diese zeitintensive Arbeit in Zukunft organisiert sein soll.
Nachhören und Nachlesen: Zum vollständigen Vortrag wie auch zur schriftlichen Zusammenfassung von Stefan Howald geht es hier entlang.